Nachdenken über Freundschaft heute

Freundschaft ist mehr als ein schönes Gefühl. Sie hinterlässt Spuren in unserer Biographie und begleitet uns bei unseren Lebensentwürfen.

Freundschaft – so Schopenhauer – gleicht den „kolossalen Seeschlangen“, von denen wir nicht wissen, „ob sie fabelhaft sind oder irgendwo existieren“. Tatsächlich ist weder in der alltäglichen noch in der wissenschaftlichen Verwendungsweise eindeutig geklärt, was gemeint ist, wenn von „Freundschaft“ gesprochen wird. Fast nie fehlt der Hinweis darauf, welch schwieriges – im Grunde aussichtsloses – Unterfangen dieses Bemühen sei. Die scheinbare Vertrautheit dieses Begriffes verführt zu der stillschweigenden Annahme darüber, dass jeder ihn mit derselben Plausibilität und ähnlichem Bedeutungshorizont verwende. Dass aber weder interpersonal noch interkulturell oder zeithistorisch mit einem einheitlichen Freundschaftsverständnis zu rechnen ist, zeigen viele Studien.

Freundschaft ist eine private Angelegenheit. Im Gegensatz zur Privatheit der Familie und Verwandtschaft allerdings scheint sie kaum greifbar. Es gibt keine gesellschaftlich fixierten Strukturen, Rituale, Inhalte oder sprachliche Formen, die deren Existenz eindeutig dokumentieren. Dennoch ist Freundschaftshandeln nicht beliebig. Es kristallisiert sich heraus angesichts der Gegebenheiten einer individualisierten Gesellschaft, passt sich dem Vorhandensein bzw. Fehlen sowie der Qualität anderer Sozialbezüge an. Sie ist ein Teil des sozialen Netzwerkes eines Menschen, in dessen Orchester sie Sinn entfaltet. Wandelt sich das Bild von Ehe, Familie und Arbeit, so wird das Auswirkungen auf die Erscheinungsformen, die Inhalte und Funktionen von Freundschaft haben. Freundschaft unterliegt – das wird oft übersehen – einer sozio-kulturellen Dynamik, und ihr Entstehen kann auch gesehen werden als Antwort auf unser gegenwärtiges Sein in der Welt.

Was, so fragt sich, ist nun das Besondere an dieser Beziehung, die durch die Zeitgeschichte nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat und deren Wert und Wichtigkeit gerade heute wieder zum Thema wird?

Freundschaften sind nicht-familiale Privatbeziehungen

Freundschaften tragen zur Bewältigung des alltäglichen Lebens bei. Sie sind eine soziale Ressource im Verbund mit anderen sozialen Quellen, wie sie Familie, Arbeitskollegen, Nachbarn, Bekannte, professionelle Helfer darstellen.

Familienmitglieder und Verwandte sind leicht identifizierbar, Arbeitskollegen oder Nachbarn sofort spezifiziert. Der Versuch, Freunde zu orten, greift oftmals ins Leere. Die Psychologin Lilian Rubin hat in einer Umfrage Männer und Frauen gebeten, ihr die Menschen zu nennen, die sie als „meine Freundin/meinen Freund“ bezeichnen würden. Sie hat sich dann die Mühe gemacht, die als Freunde genannten Personen aufzusuchen, und diese umgekehrt befragt, wie sie die Beziehung zu den Männern und Frauen schätzen, von denen sie als Freund/Freundin bezeichnet wurden: 65 % (84 Personen) erinnerten sich nicht einmal an diejenigen, welche angaben, mit ihnen befreundet zu sein. Es existierte offenbar kein gemeinsames Beziehungsverständnis. Freundschaften sind höchst fragil, können verleugnet werden. Freundschaft entzieht sich der kategorialen Einordnung von außen, sie ist angewiesen auf den Konsens der Betroffenen darüber, wie diese ihre Beziehung erleben und bewerten. Demnach ist die Bezeichnung „Freundschaft“ ein Qualitätslabel.

Der Soziologe Georg Simmel zählte Freundschaften zu den „frei schwebenden“ Beziehungen, deren eigenständige Kontur unter anderem sichtbar wird in der Gegenüberstellung zu Familienbindungen. Freundschaftswelten und Familienwelten weisen Gemeinsamkeiten auf: Beide Sphären stellen wichtige Sinnsysteme bereit, und Freundschaft wie Familie bezieht sich auf die Versorgung des Menschen hinsichtlich seiner sehr spezifischen Bedürfnisse nach menschlicher Nähe und Geborgenheit. Familienmitglieder und Verwandte sehen sich zwar häufig miteinander befreundet, Freunde kommen jedoch normalerweise nicht aus Familie und Verwandtschaft; Familie ist nicht der typische Ort, wo man Freunde sucht.

Als zentrale Unterschiede sind mindestens zwei Aspekte herauszuheben: Freiwilligkeit und der gleich gewichtete Umgang miteinander. Freundschaft entzieht sich dem Druck von außen. Niemand ist zur Freundschaft zu zwingen. Heute – das war nicht immer so – können wir darüber entscheiden, ob und mit wem, auf welche Weise und wie lange wir befreundet sein möchten. In der Freundschaft ist die Überwindung jeglicher sozialen Barriere angelegt. Zum anderen ruht Freundschaft auf einer symmetrischen Rollenbasis, die eine grundlegende Gleichwertigkeit und beidseitige Einflussmöglichkeit sichert. Selbst wenn Freundschaften – wie jede Beziehung – Momente ungleich gewichteten Umgangs beinhalten, gilt doch das subjektive Erleben eines als symmetrisch empfundenen Austausches auf lange Sicht. Demgegenüber sind Familienmitglieder in eher komplementärer Weise aufeinander bezogen: als Ehefrau für den Ehemann, als Mutter für die Tochter, als Schwester für den Bruder. Trotz zunehmend partnerschaftlicher Ausrichtung kennt Familie doch ein Geflecht von Abhängigkeitsverhältnissen, was ganz andere Fähigkeiten und Problematiken transportiert.

Freundschaft leben ist eine permanente autonome Leistung

Freundschaft ist eine permanente, autonome Leistung. Nur im ständigen Austausch und Aushandeln, in der gegenseitigen Bestätigung durch die Betroffenen entfaltet sich eine eigene Beziehungsrealität. Wo Freunde aufhören zu kommunizieren, verflüchtigt sich die Beziehung. Ehe und Familie bleiben auch dann bestehen, wenn ein Partner desinteressiert seine eigenen Wege geht oder Familienbande sich in Gewaltförmigkeit erschöpfen.

Freundschaften zeichnen sich durch ein hohes Maß an raum-zeitlicher Flexibilität aus, finden ihren Platz im privaten Bereich genauso wie in der Öffentlichkeit, nämlich genau da, wo etwas zusammen gemacht wird – in Gedanken, am Telefon, im Kino oder Restaurant. Für Freundschaftsbildung gibt es kein „zu früh“ oder „zu spät“, vielmehr ist sie jederzeit möglich und wünschenswert. Auch der innere Zeithorizont, die Dauer einer Freundschaft ist allein abhängig von der Bedürfnislage der Freunde und dem Thema, auf welches die Beziehung ausgerichtet ist. Freundschaft kann wie ein unsichtbares Band sein und sie bleibt unauflösbar.

In Freundschaften werden Freude, Moralität, Vertrauen und Sicherheit erfahren

Auf der Basis freiwilliger, aktiver Selbstverantwortlichkeit, wo Menschen sich wohlwollend auf gleicher Ebene begegnen, entwickeln sich Emotionalität und Nähe, Vertrauen, Solidarität und Sicherheit auf andere Weise als in Familienbeziehungen.

Freundschaft ist dem Gefühl der Freude assoziiert. Eine tragfähige Freundschaft wird das ganze Spektrum der Gefühlsambivalenzen, nämlich auch Leid, Wut, Konkurrenz, Neid zulassen, anerkennen und in der gemeinsamen Auseinandersetzung zugunsten von Freude und Zufriedenheit nutzbar machen. Bedeutsam auch, dass Freundschaften auf Dauer nur bestehen können, wo Echtheit, Authentizität und Achtsamkeit gelebt werden.

Immer wieder wird betont, dass Freundschaften Bereiche sind, wo wir so sein können, wie wir „wirklich“ sind, erkannt und angenommen werden in dem, was wir zu sein glauben. Wo Autonomie und Du-Bezug gefragt sind, Bindung und Trennung toleriert wird, entsteht frei zugänglich gemachtes persönliche Wissen, nicht erzwungene Gemeinsamkeit, Gleichheit aus der geteilten Verschiedenheit und Nähe, die nicht einengt. Freundschaft begünstigt Selbstvertrauen und schafft eine Sphäre des begründbaren oder aktiven Vertrauens. Man vertraut und ist Vertrauter. Direkt erfahrbare Vertrautheit aber wird in einer zunehmend komplexen, nicht mehr durchschaubaren Welt dringlicher denn je.

Freundschaften sind demnach besonders prädestinierte Kontexte, innerhalb derer sozio-moralische Kompetenzen angewendet, kritisch modifiziert, erweitert, aber auch irritiert werden können. Die heute so notwendige moralische Eigenverantwortlichkeit und Zivilcourage könnte hier angelegt sein. Freundinnen und Freunde kommen ohne Ausbildung einer sensitiven Wertschätzung und wohlwollenden Verantwortlichkeit gegenüber dem anderen – dem letztlich Fremden – nicht aus. Unverzichtbar die Fähigkeit zu Empathie, zur wechselseitigen Annahme der Perspektive des anderen und damit zur kritischen Ich-Reflexion. Es gilt, die Belange des Freundes zu berücksichtigen und zwar, ohne dabei das Eigene zu vernachlässigen. Daraus ergeben sich moralische Orientierung und Sorge, die ihren Niederschlag zeigen in Kooperation, Teilen, Gerechtigkeit und Solidarität ohne Rückversicherungsgarantie. Hier schließt sich an die Auseinandersetzung mit Rivalität, Dominanz, Missgunst und Aggression. Gelungene Freundschaften sind immer nur vorläufig; moralischer Konsens ein fragiles Unterfangen.

Wo Menschen bewusst ihre Handlungen aufeinander beziehen, sich aneinander orientieren, erfolgt ein Gefühl der Ordnung. Sicherheit und Sinn. In Freundschaft erfahrene Sicherheit gibt dem Individuum Rückhalt über den unmittelbaren Freundschaftsbezug hinaus. Es wird in die Lage gesetzt, auch in den anderen Beziehungsfeldern einer überkomplexen Welt eigenständig, kritisch, innovativ und sinnhaft zu agieren, ohne sich völlig isoliert und ungeschützt zu fühlen, weil es im Privaten aufgefangen wird, verankert ist, seinen Platz hat.

Über Freunde nehmen wir Kontakt zur eigenen Entwicklung auf

„Wie baut denn das Leben jene Kraftfelder auf, von denen wir leben? In den drei in der Sahara verbrachten Jahren werden für Saint Exupery die zurückgelassenen Freunde immer wesentlicher. Er bedarf ihrer zur Orientierung und Bestätigung seiner Existenz. Er lebt in ihnen und sie in ihm. Saint Exupery bevölkert die Wüste, welche „keinerlei greifbaren Raum bietet“, mit Kindheitserlebnissen, Erinnerungen an Frankreich und „noch fruchtbaren“ Freundschaften.

Die Identität des Menschen ist immer in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt begründet. Sie ist eine Frage des Eingebundenseins in soziale Bezüge und deren qualitative Beschaffenheit. Durch Freundschaften wird ein maßgeblicher, selbst gewählter Beitrag zur Konstruktion von Identität geleistet. An Freunde knüpft sich biographische Wirklichkeit, sie sind symbolische und konkrete Mitträger von Lebensstationen und Identitätsentwürfen. Vergangene und aktuelle Freunde spiegeln zurück, was wir waren, was wir sind und sein möchten, wovon wir uns absetzen, was uns bewegt. In der freundschaftlichen Reibung erfährt der Mensch sich als Einheit in der Veränderung. Freunde sind Teil inner Kontinuität im Wandel. Sie fungieren als Marksteine in den verschiedenen Lebensphasen. Freunde helfen dabei, sich innerhalb veränderter Lebensrollen zu etablieren, sie bestätigen, relativieren, kritisieren. Konstruktive Freunde und Freundinnen ermutigen dazu, Neues auszuprobieren, aber sie können auch behindern, halten fest an überkommenen Gemeinsamkeiten. Brüche im Leben, Trennungen von Freunden symbolisieren immer auch einen Wandel des Ich, schaffen Raum und Bereitschaft für andere Sichtweisen. Über Freundschaften können Verletzungen zur Sprache gebracht, reflektiert, gemildert oder geheilt werden. Freundinnen und Freunde kompensieren fehlende Sozialbezüge (Arbeit, Familie, Verwandtschaft) und betreiben indirekte (Partnerschafts/Ehe-) Therapie. Selbst wenn eine unterstützende, solidarische Familie existiert, kann auf Freunde nicht verzichtet werden ohne Beeinträchtigung der Identitätsbildung. Unterschiedliche Freundschaften zu pflegen bedeutet demnach, über ein Spektrum an sozialen Spiegeln zu verfügen, die den inneren Reichtum einer Person zum Schwingen bringen, aktivieren. In der Beziehung zu Freunden lernt man sich selbst mit den Augen des anderen kennen, erhält viele Versionen seiner Identität. Über Freunde nimmt man Kontakt zu seiner eigenen Entwicklung, zum inneren Selbst auf.

Freundschaft bindet, ohne zu fesseln

Heute im 20. Jahrhundert kennen wir die persönliche Freundschaft als freie Wahlbeziehung. In der Gegenwart, die sich durch Individualisierungstrends auszeichnet, tritt eine Freundschaftsform in den Vordergrund, die der Soziologe Georg Simmel schon 1908 als „differenzierte Freundschaft“ bezeichnete. Er meinte damit, dass Menschen in komplexen Gesellschaften vielfältige, thematisch unterschiedliche und notwendig kürzerfristige Freundschaften leben (müssen). Immer seltener findet sich jemand, mit dem man alles teilt bzw. teilen möchte. Menschen heute sind auf weit ausgespannte Beziehungs- und Identitätsarbeit angewiesen, um damit die eigene Position im sozialen Raum immer wieder sozial rückzubinden und einen Handlungs- und Sinnhorizont zu schaffen. Hierzu bedarf es unterschiedlichster kürzer- und längerfristiger Beziehungen, die ein Spektrum an Nähe, aber auch Distanz implizieren und auf verschiedensten Interessen- und Wissensgebieten angesiedelt sein können. Welcher Stellenwert könnte eben jener differenzierten Freundschaft in einer Gesellschaft zukommen, die einerseits vielfältigste Beziehungschancen bietet und gleichzeitig – bei steigendem Druck zur autonomen Lebensbewältigung – das Risiko der Vereinzelung, des Alleingangs transportiert, wo am anderen orientierte Gemeinschaften zunehmend auch als hinderlich angesehen werden für das eigene Fortkommen

Kontaktvielfalt muss nicht zwangsweise zur Entfremdung, Oberflächlichkeit und schließlich zur Beziehungslosigkeit führen. Gerade weil Menschen Wunschbeziehungen verwirklichen können, intensivieren sich Begegnungen. Wichtig vor allem, dass Sozialkontakte nicht gegeneinander aufgewogen werden, sondern erkannt wird, dass jedem Sozialverhältnis eine eigene dynamische Unterstützungskapazität zukommt.

Freundschaftsbildung als Gegenentwurf im schnellen gesellschaftlichen Wandel könnte ein Moment der Beständigkeit, des Beharrungsvermögens und der Besinnung bringen. Sie wäre ein Beziehungsmodell gegen Mobilitätszwang, Zerrissenheit und Anpassungsdruck, ohne Offenheit, Flexibilität und Phantasie zu verbieten. Weil differenzierte Freundschaft bindet, ohne zu fesseln, neuen Perspektiven aufgeschlossen ist und Handlungs-, Wissens-, Sinnzusammenhänge aktiv experimentierend ausloten kann, stellt sie gerade heute einen Modus der autonomen Lebensbewältigung dar, der den anderen nicht instrumentalisiert, sondern wertschätzend mit einbezieht.

Freundschaft bedeutet, bei der Bewältigung von Lebensepisoden ganzheitlich aufeinander bezogen zu sein. Die Bereitschaft zur Konzentration auf die Person des anderen, zum empathischen Zuhören und Hinschauen, also auch zum Zeit-Nehmen, wird kultiviert. Pflege von Freundschaften macht ein Maß an qualitativer Auswahl, Rückzug und Verzicht auf andere Optionen erforderlich. Sie stärkt die Fähigkeit zum Aushandeln und Nein-Sagen, zur Verantwortung und Rücksichtnahme, wirkt gegen Abnahme unmittelbaren Erfahrungswissens. Freundschaft ermöglicht innere Nähe, weil sie bei aller Realitätsbezogenheit eine nicht-ausbeutende Haltung voraussetzt. Sie stellt sich gegen Einsamkeit und Isolation. Freundschaften sind hochflexibel – sie lassen sich der jeweiligen Lebenslage, den einem Individuum bedeutsamen Werten, Interessen, Problemen und dem Raum-Zeitgefüge einpassen.

Familie und Freundschaft sind die wichtigsten sozialen Unterstützungssysteme

Fragt sich, in welchem Wechselverhältnis Freundschaft und Familie sich denken lassen. Ein Dilemma heutiger Familienbeziehungen scheint in der ambivalenten Forderung zu dauerhafter Bindung und der gleichzeitigen Freiheit zur Abkehr von den damit verknüpften traditionalen Werten zu liegen. Lässt es sich vorstellen, dass gerade innerhalb verunsicherter, normoffener, rechtsunklarer Verwandtschaftsbeziehungen, die immer häufiger den Status von „Wahlverwandtschaften“ (Beck-Gernsheim) annehmen, wieder vermehrt Freundschaften ausgebaut werden, die eine bewusste Streitkultur realisieren unter Absehung einer, über juristische Dritte sich vollziehende, Konflikteskalation? Zu wünschen ist, dass die beiden wichtigsten sozialen Unterstützungssysteme Familie und Freundschaft konstruktiv aufeinander einwirkten und sich in ihrer Eigen-Art und Wichtigkeit respektierten, ermuntern und ergänzen. Dies trotz des Wissens darüber, dass Männer- bzw. Frauenfreundschaften auch zerstörerische Wirkung auf Familienzusammenhalt haben können. In umfassendem Maße sind es besonders Frauen, die mithilfe ihrer Freundinnen und durch Ausbau eines weit gefassten, vorwiegend weiblichen Netzwerkes ihre familiale und berufliche Position sichern und absichern. Frauen sind außerdem diejenigen, welche persönliche Beziehungsprobleme z.B. mit dem Partner, innerhalb von Freundschaften im Disput „therapieren“. Der Wert von Freundinnen in ihrem Beitrag zur Familienintegration ist überhaupt noch nicht erfasst – wie allgemein festzustellen ist, dass wir heute von einer Zeit der Frauenfreundschaften sprechen können. Und erst langsam beginnen Männer, sich einander wieder freundschaftlich zu nähern.

Aber: Freundschaft ist kein Allheilmittel

Freundschaft ist kein Allheilmittel. Wie schon angedeutet – die Realität zeigt sich weniger romantisch, und Freiwilligkeit ist zu problematisieren. Freunde werden aus der Not geboren, ergeben sich aus Gruppendruck und sozialer Kontrolle – durch Eltern, Partner, Arbeitskollegen, Cliquenzugehörigkeit. Nicht jeder ist gut genug für Freundschaft. Status und Prestige diktieren unter der bewussten Oberfläche die Bereitschaft, auf jemanden zuzugehen. Überkommene Freunde werden mitgeschleppt aus Scheu vor Trennungskonflikten, man knüpft neue Beziehungen aus Zweckopportunismus. Freundschaften verpflichten hin auf eine gemeinsame Sache, sind eine Last, fordern Energie und Zeiteinsatz. Sie sind auch geknebelte Freiheit, Selbst-Begrenzung.

Freundschaft zeigt sich als permanente und schwierige Balance, sie oszilliert zwischen Offenheit und Verweigerung. Nähe und Distanz, Zuneigung und Ablehnung. Freundschaft bringt Heiterkeit, Freude, Akzeptanz und stürzt in Trauer, Wut, Eifersucht. Sie versöhnt mit dem Leben und macht es schwer; bringt Wertschätzung und Weiterentwicklung, kann aber auch verunsichern und deprimieren. Freundschaft bedeutet die Faszination des Sich-Einlassens und scheut nicht die Auseinander-Setzung.

Heute steht es jedem Einzelnen frei, im Dickicht der Chancen und Risiken eines Überangebotes an Kontakten, jene Beziehungen zu vertiefen, in denen er glaubt, verstanden und angenommen zu sein. In dieser Handlungsfreiheit liegt ein wichtiges Potenzial zu einer neuen, freieren Art und Weise des Zusammenlebens, die eigene Qualitäten entfaltet im Sinne einer Individualität durch Sozialität.

Ursula Nötzoldt-Linden